Der Tanz um die Einsamkeit – ein Vortrag von Samuel Widmer


Wir haben auf unserer bisherigen Reise beim Erforschen von dem, was Meditation ist, immer wieder gesehen, dass das Fundament dafür zuerst einmal Selbsterkenntnis ist. Wenn Selbsterkenntnis gefunden ist, geht dann Meditation noch in eine ganz andere Tiefe hinein. Aber ohne die Stille, die aus der Selbsterkenntnis kommt, kann man die tiefen Wasser in sich nicht finden. Wir haben auch immer wieder gesehen, dass dieses Selbst, das Ich, in dem wir mehr oder weniger gefangen sind, das uns trennt von den tieferen Geheimnissen in uns, dass dieses Ich zuerst, wenn man es zu erforschen beginnt, ein höchst komplexes Gebilde zu sein scheint, das aber bei näherer Betrachtung sich als eigentlich ganz simple Struktur erweist. Ich denke, das ist einer der ganz großen Vorteile, wenn man mit der Kunst der Meditation zu leben beginnt, dass all die komplexen Dinge des Lebens ganz einfach werden.

So ist es auch mit der Einsamkeit. Die Einsamkeit ist ein ganz außerordentliches Gefühl, ein ganz gewaltiges Gefühl, einerseits. Und andererseits, wenn es verstanden ist, integriert ist, bewältigt ist, wenn man die Energie, die normalerweise um sie herum in einem gruppiert ist, befreit hat, ist sie etwas ganz Einfaches, ein schlichtes Gefühl. Einsamkeit, das ist das Gefühl, nicht geliebt zu sein. Letztlich eigentlich kein besonders schwieriges Gefühl, halt auch einfach ein Gefühl. Das, was es so zu etwas Speziellem macht, heraushebt aus allen anderen Gefühlen, ist dass man es zu allerinnerst oder am tiefsten Punkt des Gefühlsreiches findet. Wenn die Einsamkeit bewältigt ist, tritt man aus dem Gefühlsreich heraus. Dann enden die Gefühle in einem und man betritt einen ganz anderen Raum als den der Gefühle. Die Einsamkeit ist das Gefühl, das man ganz zuerst, wenn man aus dem Zustand der Liebe herausfällt, empfindet, und das man zuallerletzt spürt, wenn man wieder in ihn zurückfindet.

Dass es so ein gewaltiges Ding wird in unserem Leben hängt einerseits damit zusammen, dass wir es nicht wollen, wenn es da ist und mit Abwehr darauf reagieren. Die Abwehr macht es dann zu etwas ganz Riesigem in uns. Das ganze Ich ist eine Gruppierung von Abwehrkräften um die Einsamkeit herum. Das macht es zu einem riesigen Ding in der Welt, weil das ganze Leben des Durchschnittsmenschen ist als Abwehr um die Einsamkeit herum gruppiert. Fast alles, was wir tun, hat diesen Hintergrund, die Einsamkeit zu vermeiden.

Daraus entstehen in der Welt draußen riesige Strukturen, ganze Kriege werden geführt, kleine und große, um die Einsamkeit zu vermeiden. Eine ganze Vergnügungsindustrie dient dem, sie zu vermeiden. Alle oberflächlichen Religionen sind dafür geschaffen, sie zu lindern. Und im Inneren all der Gefühle, die wir angeschaut haben, die abwehrenden Gefühle - die Angst, der Trotz, die Eifersucht, der Neid - all das entsteht aus dem Weggehen von der Einsamkeit. Dieses ganze Gefühlsreich und auch seine Auswirkungen im Äußeren fallen in sich zusammen, sobald man an diesen Kern davon kommt und ihn annimmt.

Die Einsamkeit hat viele Facetten, das macht es so schwierig, sie zu bewältigen. Dieses Gefühl, nicht geliebt zu sein, hat 1000 verschiedene Gesichter, die werden wir dann alle im Laufe der Zeit noch näher betrachten - ausgeschlossen sein, Ohnmacht, sich hilflos fühlen, unverstanden sein, Traurigkeit, Schmerz. Das ist diese eine Seite, warum die Einsamkeit so ein ganz besonderer Zustand ist im Gefühlsreich - die Tatsache, dass die ganze Abwehr der Ich-Strukturen auf sie hin zielt, dass unser ganzes Leben um sie herum, ein Tanz um sie herum ist, ein Tanz von ihr weg.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum sie so herausgehoben ist. In einem emotionalen Zustand zu sein betrachten wir als eine normale menschliche Bedingung. Wir gehen irgendwie davon aus: so sind wir eben, dass wir Gefühlswesen sind, die vielerlei Gefühle haben, auf alle Herausforderungen des Lebens mit Gefühlen antworten, mit Gefühlen reagieren. Und wenn wir nicht tief eindringen in den Zustand der Meditation, so dass wir uns nie wirklich verstehen, sehen wir nie, dass das nur eine ganz oberflächliche Schicht ist in uns, dass man viel tiefer gründen kann in einem Meer von Kraft oder in einem Becken von Energie. In dem Gefühle in dem Sinn nicht existieren, sondern dieses eine Gefühl - Liebe, Stille oder wie man zu dem dann sagt, in dem sich dieses Gefühl von Angekommen-Sein, Zuhause-Sein, Zentriert-Sein, Ganz-Sein ausbreitet. Die meisten Menschen kennen das nicht, sie wissen nicht, dass das ihr natürliches Erbe ist. Sie sind nur in ganz wenigen zufälligen Augenblicken in ihrem Leben wirklich in sich zuhause und geben sich normalerweise zufrieden mit der Vorstellung: „Wir sind eben emotionale Wesen.“

Das, was die Einsamkeit so heraushebt aus allen anderen Gefühlen, auf eine positive Weise heraushebt, ist, dass sie der Schlüsselpunkt ist zwischen dem Reich der Gefühle und diesem anderen Zustand, diesem Meer der Unendlichkeit, das darüber hinausgeht. Die Einsamkeit ist das Tor dazwischen. Sich ihr zu stellen, öffnet es. Es führt kein Weg an ihr vorbei. Die ganzen Wege der Selbstbefreiung, der Psychotherapie usw., all das lässt sich in einem Satz zusammenfassen: All das beinhaltet ein Sich-Schulen, ein Umlernen von dem Zustand, in dem man ständig die Einsamkeit zu vermeiden versucht zu einem Zustand, in dem man sie ununterbrochen willkommen heißt.
Das beginnt ja schon damit, diese Reaktion zu begreifen, die man zuerst als natürliche betrachtet, wenn Angst in mir aufkommt, ich vor ihr wegspringe in der Hoffnung, ich werde sie so los. Dass ich zu verstehen beginne - das geht nicht, das schafft nur noch mehr Probleme. Ich muss mich ihr stellen, ich muss die Angst anschauen. Ich muss auf sie zugehen, ich muss ihr stillhalten. Sie betrachten in mir, zuhören, was sie mir zu erzählen hat - und auf diesem Weg nähere ich mich der Einsamkeit wieder, weil all die anderen Gefühle sind entstanden in mir aus diesem Versuch heraus, die Einsamkeit zu vermeiden.

Und so komme ich schließlich vor dieses Tor und die Übung ist immer noch dieselbe. Ich liebe das Gefühl nicht, wir lieben es nicht, wir wollen davon weg, ich möchte es nicht haben.

Anstatt dessen sehe ich ein: wenn ich diesen Weg gehe, ende ich da, wo alle Welt endet - im Seichten, im Oberflächlichen, in der Verwirrung - und das will ich nicht. Ich will einen klaren Geist haben, einen Geist, der in der Tiefe des Seins wurzelt. Also, ich stell mich dem, ich nehm‘ sie. Dann kommt das Stillhalten, das Aushalten, das Ringen mit sich, dem, den Tendenzen, davor zu fliehen, zu widerstehen, die Suchttendenzen und die reaktiven Gefühle, das Ausagieren. Ich will dem stillhalten, ich will das aushalten, ich will das tragen. Und dann bleibt man für den Rest des Lebens da stehen, am dümmsten Punkt. Das genügt nämlich nicht. Die Einsamkeit ist die Hüterin eines großen Geheimnisses, kann man auch sagen. Aber sie ist eine eifersüchtige Hüterin dieses Geheimnisses. Sie gibt es nur preis, wenn man sie liebt. Es genügt ihr nicht, dass man sie respektiert. Es genügt ihr nicht, dass man sie mehr oder weniger unwillig akzeptiert. Sie will Deine Freundin sein. Sie will geliebt sein, sie ist ja das Gefühl des Ungeliebt-Seins. Sie macht nur Platz für die tieferen Gründe, wenn man ihr das gibt. Sie ist ein Gast, der sich nicht damit zufrieden gibt, dass man ihm ein Bett gibt und etwas zu essen. Sie will geschätzt sein, sie will, dass man sie sucht. Sie will, dass man ihr einen definitiven Platz im Leben gibt.

Sie will, dass man, so wie es der Durchschnittsmensch ja auch tut, sein ganzes Leben um sie herum gruppiert. Aber nicht in der Weise, dass man sie abwehrt, dass es ein ganzes Leben ist, das sie abwehrt, eine ganze innere Struktur, die sie nicht will; sondern sie will weiterhin im Zentrum bleiben. Aber sie will, dass ich ihr zugewendet bin. Dass mein ganzes Inneres nicht eine Struktur der Abwehr, sondern ein offenes Becken für sie ist. Dass mein ganzes Leben nicht eine Kette von Reaktionen gegen sie, sondern eine Kette von Versuchen, sie für mich zu gewinnen, ist.

Wenn ich mich darauf einlasse, mache ich diese eigenartige Erfahrung, die ich mit jedem Gefühl schon vorher gemacht habe, auf das ich mich eingelassen habe: es wandelt sich, es geht durch diesen geheimnisvollen Transformationsprozess, von dem wir das letzte Mal gesprochen haben. Wenn ich bei der Angst stehen bleibe, bis sie mir ihr Geheimnis zeigt, bleibt in mir nur Ehrfurcht übrig, ein Staunen vor dem Mysterium des Lebens. Wenn ich vor dem Trotz still stehe, bis er mir sein Innerstes erschließt, bleibt in mir nur Kraft übrig, die ich dann auch in eine ganz andere Richtung lenken kann. Und genauso ist es mit der Einsamkeit. Wenn ich mich mit ihr anfreunde, verliert sie ihr erschreckendes Gesicht. Sie scheint sich zu wandeln. Sie ist gar nicht so, wie ich es befürchtet habe. Sie ist für sich schon Schönheit. Sie ist ein ganz tiefes Gefühl, das tiefste von allen Gefühlen. Es steht am Übergang zu diesem Raum, der keine Gefühle mehr beinhaltet. Sie öffnet sich in diesen Raum hinein. Darum ist sie so tief und samten, so geheimnisvoll. Sie hat noch etwas Schweres, etwas Trauriges, sie ist noch nicht die Erfüllung. Aber die Erfüllung kommt durch sie.

Wenn ich so mit ihr still bin - nicht nur als Pflicht, sondern gewissermaßen als Kür - sie ist wirklich meine Freundin geworden, sie darf auch für immer bei mir bleiben, sie darf meine beständige Begleiterin sein, ich liebe sie - dann öffnet sie sich mir noch mehr, dann beginnt sie, mir ihr Geheimnis zu offenbaren, das Geheimnis, das sie hütet.

Das Geheimnis, das sie hütet, ist die Möglichkeit eines vollkommen anderen Lebens. Das eine Leben kommt aus der Abwehr der Einsamkeit. Sein Mittelpunkt bleibt die Einsamkeit, man kann dem nicht entrinnen. Es ist das Leben, wie wir es kennen, voller Kampf und Konflikt und Leid und Oberflächlichkeit und es hat letztlich keine Bedeutung. Und das andere Leben gruppiert sich auch um die Einsamkeit. Aber weil da eine Offenheit ist für sie, erzählt die Einsamkeit Geschichten. Sie erzählt von aller Einsamkeit der Welt, von all den einsamen Herzen der Menschen, von all dem ungestillten Hunger nach Liebe, der hinter all diesem verwirrten und chaotischen Tun sich versteckt. Mit diesen Geschichten erweckt sie das Mitgefühl in uns. Diese Weite im Herzen und im Geist, die das ganze Sein umfassen kann, die ganze Menschheit umfassen kann, die eben mit der Erde als Ganzem beschäftigt ist und nicht mit sich selbst, abgegrenzt als ein kleiner Teil. Und aus diesem Einsichtnehmen, Sich-Einfühlen, Hineingleiten in diesen Zustand des Mitgefühls wächst allmählich ein vollkommen anderes Leben heraus. Die Möglichkeit von konfliktfreier Beziehung, die Möglichkeit, miteinander in einen Zustand zu wachsen, in dem man ein Herz und ein Geist ist.

Einsamkeit ist auf der innenpsychologischen Ebene das, was der Hunger ist auf der körperlichen. Der Hunger ist ein gutes Abbild für sie. Wenn ich Hunger habe, kann ich auch auf zwei Weisen damit umgehen. Nehmen wir an, ich habe Hunger und ich bin gerade in einer Situation, wo ich nicht gerade zum Essen kommen kann - was tue ich dann? Hunger, das ist so ein Loch im Bauch, das sich auswirkt auf meine ganze Qualität des Seins. Ich kann so damit umgehen, dass ich das möglichst schnell los sein will. Ich werde unstet, gierig, entwickle viel Betriebsamkeit, um eine Lösung zu finden, etwas zu essen zu finden oder dem Gefühl davon, wenn ich’s nicht lösen kann, wenigstens auszuweichen - ich mache viel Stress damit. Das, was ich dabei verpasse ist, den Hunger zu fühlen. Das ist die andere Möglichkeit, die ich habe in einer solchen Situation. Ich kann mit dem Hunger einfach sein. Wenn man fasten lernt, macht man das zum Beispiel. Man ist einfach mal damit, man beobachtet das in sich. Da ist ein Loch, so ein inneres Zerreißen. Und dann merkt man auch: man kann das auch auskosten. Hunger ist nicht an sich schrecklich. Die Vorstellung, die ich damit verbinde, ist schrecklich. Man kann den Hunger auch genießen. Er versetzt einen in einen sehr sensiblen Zustand, einen wachen Zustand. Und der Körper liebt in einem gewissen Maße das Hungerhaben. Das ist genau dasselbe, dieselben zwei Möglichkeiten habe ich mit der Einsamkeit. Sie erzählt mir nur von dem Geheimnis, das sie hütet, wenn ich sie zu genießen beginne, wenn ich sie auskosten lerne. Sie auskosten heißt dann ihre Feinheiten kennenzulernen. Der Durchschnittsmensch hat zu den Gefühlen nur einen ganz wagen Zugang. Häufig trifft man Menschen, die können gerade knapp unterscheiden zwischen angenehm und unangenehm. Sie können das nicht weiter differenzieren in sich. Und schon das - obwohl es nur der Vorraum zum eigentlichen Sein in uns ist, wirklich differenziert seine Gefühle zu kennen - ist ein Leben wert.




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